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Thema: ~ Dinge, die nie geschehen sind ~ Do Mai 16, 2019 7:20 pm
Hey, ich habe vor etwa drei Jahren eine Geschichte geschrieben, die auch in einem Buch zu finden ist. Da ich die Story nicht mehr digital abrufen kann, habe ich mir gerade die Mühe gemacht und alles mit dem Handy eingescannt, wobei ich ganz schön viel verbessern durfte, weil mein Handy nicht alles erkannt hat^^ Nun ja, hier ist sie:
Dinge, die nie geschehen sind:
Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich das letzte Mal einen Fuß auf ein fremdes Grundstück gesetzt habe. Dennoch kommt es mir so vor, als hätte ich seit Ewigkeiten kein Dach mehr über dem Kopf gehabt, sofern man die alte Brücke hinter der Wiese nicht mitzählt. Geräuschlos betrete ich das Grundstück und sehe mich ein letztes Mal um. Mit zittrigen Händen fahre ich über die verblasste Aufschrift des Briefkastens. Die Aufschrift ist rau und es fühlt sich an, als berühre man die Schrift einer uralten Hexe. Während ich mich durch eine viel zu enge Katzenklappe zwänge, rufe ich mir die Situation noch einmal vor Augen. Autos stehen nicht vor dem Haus, also gehe ich davon aus, dass niemand zu Hause ist. Von draußen konnte ich bereits erkennen, dass dieses Haus einen Dachboden hat. Ich habe ein kleines, gemütliches Einfamilienhaus gewählt. Das Haus ist alt, bestimmt aus dem 19. Jahrhundert. Ich sehe mich etwas genauer um. Ich durchlaufe einen schmalen Flur, der zu einem großen Wohnzimmer und zur Küche führt. Genau im richtigen Moment erinnert mich mein Magen daran, dass ich schon seit Tagen nichts Richtiges gegessen habe. Der Boden knarzt, als ich mich zur Küche bewege. Eigentlich hasse ich es, zu stehlen, aber gerade geht es einfach nicht anders. Mein Hunger ist zu groß. Ich reiße den Kühlschrank auf und stopfe mir Kekse und Schokolade in den Mund, dann fülle ich meinen Rucksack mit allem, was ich finden kann und zu guter Letzt packe ich mir noch eine große Wasserflasche ein. Bevor ich die Küche verlasse, versichere ich mich, dass alles genauso aussieht wie vorher. Ich schleiche die Treppe hoch und sehe mich kurz um, dann öffne ich die eine Luke und ziehe die Leiter zum Dachboden herunter. Äußerst bedächtig klettere ich, Sprosse für Sprosse, die alte, knarzende Holzleiter hoch. Oben angekommen zwänge ich mich durch das viel zu klein geratene Loch und ziehe die Holzleiter hoch. Ich schließe die Luke und finde mich in völliger Dunkelheit wieder. Ich taste mich an den Seiten entlang und ziehe rasch meine Hand zurück, als ich weiche, klebrige Fäden spüre. Angewidert reibe ich mir meine Hand an meinem alten Oberteil ab, das mindestens dreimal so viele Löcher hat wie der Garten meiner Nachbarn, als ich noch ein Zuhause hatte. Diese hatten nämlich einen Hund. Manchmal, wenn unsere Nachbarn nicht zu Hause waren, habe ich auf den kleinen Border Collie aufgepasst, zusammen mit meiner kleinen Schwester Sophie. Ich seufze. Durch die ganzen Erinnerungen wird mir schlecht. Mein Magen dreht sich um. Es kommt mir so vor, als wäre das alles schon 100 Jahre her. Weiter taste ich mich durch den stockdunklen Dachboden, in der Hoffnung, einen warmen, weichen Schlafplatz zu finden. Hinter einer Säule erkenne ich plötzlich Licht. Ich entdecke ein Fenster, welches mit einem Brett abgedeckt ist. Behutsam nehme ich das Brett vom Fenster und kneife meine Augen wegen des hellen Lichts fest zusammen. Nach einiger Zeit öffne ich diese vorsichtig wieder und schnell haben sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt. Auf einmal höre ich Schritte. Verzweifelt sehe ich mich in alle Richtungen um, aber ich kann niemanden entdecken. Die Schritte sind hier. Direkt auf dem Dachboden. Das pechschwarze Wesen tapst um die Ecke und erleichtert wische ich mir den Schweiß von meiner Stirn. Die Katze muss irgendwie anders reingekommen sein. Ich hätte früher an die Katze denken müssen, schließlich hat die Eingangstür eine Katzenklappe. Ich sehe mich auf dem Dachboden um. An den Wänden kleben wie erwartet dicke Spinnweben. Überall verteilt entdecke ich große Kartons, voll mit unnötigem Krimskrams.
Hin und hergerissen zwischen Öffnen und nicht Öffnen gehe ich auf einen Karton zu. Meine Neugier scheint mich fast zu erdrücken. Aber was kann denn hier oben in solchen alten Kisten Spannendes sein? Wahrscheinlich sind es nur alte Bücher oder so. Trotzdem öffne ich den Karton und es kommt eine alte, verstaubte Flasche zum Vorschein. Vorsichtig hebe ich sie aus dem Karton und betrachte sie etwas genauer. Ich frage mich, wie alt diese Flasche wohl sein mag und welchen Gebrauch sie hatte. Sie liegt schwer in meinen Händen. Ihre Farbe ist ein dunkles Blau, umrandet durch verschnörkelte, tiefschwarze Muster. Voller Neugier drehe ich den schweren Glasdeckel von der Flasche, jedoch geschieht nichts. Die Flasche scheint leer zu sein. Erst jetzt bemerke ich die unlesbare Aufschrift auf der Flasche. Eine dicke Staubschicht bedeckt die Buchstaben. Behutsam streiche ich mit meinen Händen über die Flasche, um die Schrift sichtbar zu machen. Mir stockt der Atem, als ich die blasse Schrift entziffere: Nicht an der Flasche reiben. Nach einigen Sekunden des Schreckens lache ich auf. Was soll denn bitte passieren? Beinahe habe ich erwartet, dass etwas Schreckliches passieren wird. Naiv muss man sein, um zu glauben, dass seltsame Texte auf jahrhundertealten Flaschen überhaupt irgendeine Bedeutung haben. Plötzlich halte ich die Luft an. Aus der Flasche steigt Rauch. Giftgrün. Ich halte mir sicherheitshalber die Hände vor den Mund man weiß ja nie, vielleicht ist der Rauch ja toxisch? Doch zum Vorschein kommt langsam, noch ziemlich transparent, aber allmählich sichtbar, ein Mann in einem antiken, grünen Gewand. Mein Mundwinkel zuckt. Also hatte ich doch recht. Vielleicht ist es naiv, zu glauben, dass es so etwas wie Magie gibt. Vielleicht bin ich verrückt. Aber ich gebe mich gerne dem hin, was ich sehe. "Hallo", lache ich dem Dschinn entgegen.
Blitzschnell schlage ich die Augen auf. Gibt es das wirklich? Geister? Flaschengeister? Übernatürliches? So Viele Fragen schießen mir durch den Kopf und es fällt mir schwer, diese zu sortieren. Wo bin ich überhaupt? Gähnend strecke ich mich und setze mich auf; ich befinde mich in einem weichen Bett. Blinzelnd sehe ich mich um. Ein Jugendzimmer. Rot gestrichene Wände, hellblaue Vorhänge und eine große Sitzecke mit vielen Kissen. Langsam realisiere ich, dass dies mein Zimmer ist. Dass es so etwas wie Dschinns gibt, ist eine Sache. Aber dass sie einem den unmöglichen Wunsch von einem normalen Leben erfüllen, das ist eine ganz andere Sache. Den Tod meiner Eltern kann man nicht rückgängig machen. Vielleicht ist das alles ja nur ein Traum? „Ava, Ava!" Sophie stürmt in mein Zimmer und ich muss lächeln. Meine kleine Schwester ist groß geworden. „Mami ist nicht zu Hause. Ich will, dass du mit mir spielst", jammert sie. „Natürlich spiele ich mit dir", erwidere ich endlos glücklich, dass alles in Ordnung ist. Bestimmt zwei Stunden haben wir nun zusammen gespielt, als Sophie sich ihre Hand an den Kopf hält. „Ava murmelt sie. Besorgt sehe ich sie an. „Sophie? Was ist los? Möchtest du ein Glas Wasser?" Sophie nickt nur schwach. Sofort renne ich runter und reiße den Schrank auf, wobei ein Glas klirrend zu Boden fällt. Ich ignoriere es und nehme ein neues. Dann gieße ich Wasser in das Glas und bringe es hoch. Doch Sophie liegt reglos auf dem Boden. Erschrocken lasse ich das Glas fallen und knie mich vor sie. Ich schüttele sie leicht. „Sophie!", rufe ich. Keine Reaktion. „Sophie!"‚ rufe ich erneut. Tiefe Verzweiflung liegt in meiner Stimme. Tränen kullern mir über die Wange. Sophies giasige Augen starren ins Leere. Sie atmet nicht.
Ein Schluchzen dringt durch meine Kehle. Tot. Sie ist einfach tot. Warum ist sie tot, wenn ich mir ein normales Leben gewünscht habe? War das etwa der Deal? Ein stechender Schmerz zieht sich durch meinen Kopf. Nein. Nein, das darf nicht wahr sein. Es ist wie bei Sophie. Ich sinke zu Boden und hole tief Luft. Es werden meine letzten Atemzüge. Immer mehr ringe ich verzweifelt nach Luft und lasse mein Leben an mir vorbeiziehen. Aber da ist nichts Gutes. Langsam gebe ich mich meinem Schicksal hin. Es war meine Tat, die dies ausgelöst hat. Das alles hätte nie passieren müssen, wenn ich nicht an der Flasche gerieben hätte. Meine Neugier hat meine Schwester umgebracht und ich bin die Nächste. Ein letztes Mal schnappe ich nach Luft, bevor alles um mich herum schwarz wird.
Erinnerungen. Erinnerungen sind alles, was mir bleibt. Alles was ich habe. Erinnerungen an das, was war und an das, was nie gewesen ist. Nie sein wird. Erinnerungen an all die guten Dinge, die passiert sind und an all die, die man einfach nur vergessen möchte. Aber Erinnerungen sind wie Glas. Wie die beiden Wassergläser. Lässt man sie fallen, zerbrechen sie. Eine einzige Handlung kann das ganze Leben verändern oder sogar beenden. Ich sehe ein Licht. Es wird immer heller, immer mehr leuchtet es mir entgegen. Nicht länger kämpfe ich dagegen an. Ich steuere auf das Licht zu und lasse einfach das geschehen, was geschehen muss.
Wie gesagt, es ist schon drei Jahre her, dass ich diese Geschichte geschrieben habe und sie ist sicherlich kein Meisterwerk, aber sie liegt mir trotzdem am Herzen.
~Abend
Zuletzt von Abendröte am Do Mai 16, 2019 9:39 pm bearbeitet; insgesamt 1-mal bearbeitet
Blitzstern Admin
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Thema: Re: ~ Dinge, die nie geschehen sind ~ Do Mai 16, 2019 7:34 pm
Naaww, wow das ist irgendwie eine tolle Kurzgeschichte. Man konnte sich das so gut und detailiert vorstellen. Und irgendwie ist die Geschichte einfach rund, es wird mit einem guten Anfang eingeläutet und mit einem guten Ende zum schluss getragen. Ich find es sehr rund und schlüssig :3
Abendröte Admin
Anzahl der Beiträge : 325 Anmeldedatum : 15.05.19 Alter : 22
Thema: Re: ~ Dinge, die nie geschehen sind ~ Do Mai 16, 2019 7:37 pm
Dankeschön, es freut mich total, das zu hören. Ich denke trotzdem, dass ich heute einiges anders gemacht hätte.